Relativ perfekt


Nichts spricht dagegen, eine Aufgabe möglichst gut zu machen, oder? Was ist aber, wenn ich sehr viel Arbeit investieren muss, um sie weiter als „relativ perfekt“ zu verbessern? Der vielgereiste Leser wittert das Pareto-Prinzip, aber so einfach ist es nicht.

In einem meiner vorigen Artikel habe ich darüber geschrieben, wie viel Zeit wir uns nehmen sollten, um eine Entscheidung herbeizuführen. Der Schritt, dieses Verfahren auf das Bearbeiten einer Aufgabe anzuwenden, ist klein: Ich arbeite so lange an einer Aufgabe, bis sie

  1. fertig ist oder
  2. hinreichend fertig im Sinne bestimmter Kriterien ist oder
  3. wegen anderer wichtigerer oder dringenderer Dinge nicht weiter bearbeitet werden sollte

Dabei lasse ich mal weg, dass wir natürlich auch an mehreren Dingen arbeiten und die Arbeit an einer Aufgabe unterbrechen können. Und was sollen nun die kursiven Worte in der obigen Aufzählung? Sie sind der Aufhänger für diesen Artikel.

fertig versus hinreichend fertig

Auf diesen kleinen Unterschied will ich gar nicht groß eingehen. Es gibt aber wenig nicht-triviale Aufgaben, die einfach fertig sind. Meist gibt es Vor- oder Restarbeiten irgendwelcher Art, die in die Aufgabe einbezogen werden müssen:

  1. Nach dem Umschaufeln eines Sandberges sollte ich die Schaufel wegräumen und den Sand am bisherigen Platz zusammenfegen.
  2. Vor dem Rasenmähen muss ich Kabel auslegen und den Rasenmäher zum Rasen bringen.
  3. Vor dem Einschenken eines Glases Wasser muss ich entweder einen Krug mit Wasser zum Tisch bringen oder das Glas zum Wasserhahn. Danach muss sich manchmal noch verläppertes Wasser wegwischen.

Hinreichend fertig könnte also sein, dass der Kern der Aufgabe umgesetzt ist, die Vor- oder Nacharbeiten nicht. Lassen wir aber mal fertig beiseite und konzentrieren uns auf hinreichend fertig Im Sinne von „irgendwas fehlt immer“.

Was ist hinreichend fertig?

Hinreichend fertig ist eine Aufgabe, wenn sie relativ perfekt ist. Man sieht also noch bei mehr oder weniger genauem Hinsehen, dass sie noch etwas Feinschliff haben könnte. Im Wesentlichen ist die Aufgabe aber erfüllt.

Und jetzt kommt das Dilemma: Es gibt unterschiedlichen Ansichten darüber, ob das Arbeitsergebnis der Aufgabe als hinreichend fertig angesehen werden kann! Ja, so etwas! Sollten wir vielleicht den Fehler gemacht haben, ungenaue Kriterien festgelegt zu haben? Oder sind die Kriterien nicht messbar? Oder gibt es einfach jemanden der sagt, dass es aber alles eigentlich ganz anders gemeint war?

Der erfahrene Projektleiter-Leser kennt dieses Dilemma sicher und ist gewappnet mit einem Arsenal an Dokumenten, die irgendwas so oder anders belegen. Heerscharen von Autoren und Projektleitungsschulungen widmen sich diesem Thema. Wer bin ich also, hierzu auch etwas dazu zu schreiben? Nein, nein, das ist alles oft genug wiedergekäut worden, der geneigte Leser wird sich sicher mit dem Thema „Anforderungsmanagement“ woanders vertraut machen können.

Hier, und nun kommen wir nach etwa 400 Worten endlich zum Thema, geht es darum, wie es einem selbst dabei gehen kann, eine Aufgabe unfertig zu beenden. Elegant sammeln wir dabei nun noch den dritten Punkt aus dem Anfang des Artikels ein. Er handelt davon, dass Aufgaben wegen wichtigerer oder dringenderer Aufgaben nicht weiter bearbeitet werden. Letztendlich ist das aber nur ein weiterer Grund für halbfertige  Aufgaben.

Zufrieden oder nicht?

Jetzt haben wir also eine Aufgabe irgendwie fast-fertig gemacht und fragen uns nun: Zufrieden mit dem Ergebnis? Ärgerlicherweise schlägt jetzt der Der Innere Richter (nach Byron Brown)  zu. Er legt fest, ob wir  zufrieden sind oder nicht. Der Prozess vor seinem Gericht handelt vom sehr persönlichen und privaten Streit zwischen den beiden inneren Parteien „Ein besseres Ergebnis wäre sicher drin gewesen“ und „Wie-Auch-Immer-Fertig ist eben auch Fertig“.

Fragen dieser Art bewegen sich zwischen dem gesunden Plateau der Gewissenhaftigkeit, dem Strand der Genügsamkeit und dem Abgrund des dysfunktionalen Perfektionismus. Und unserer Richter sitzt mitten drin.

Der Innere Richter fällt sein Urteil

Nehmen wir nun an, dass das Hohe Gericht des Inneren Richters nun sein Urteil gefällt hat und uns sagt, dass in diesen Falle Fertig eben doch etwas weit entfernt von Hinreichend Fertig war. Und nun?

Wir können uns nicht vor diesem Richter verstecken, wir können ihn nicht ausmerzen, er gehört zu uns und ist letztendlich Teil unseres moralischen Kompasses. Wenn  Du ihn also nicht besiegen kannst, mache ihn Dir zum Freund. Und mit Freunden darf man auch diskutieren. So könnte das also aussehen, wenn er sagt:

Angeklagter, dieses Arbeitsergebnis war Mist.

Dann sagst vielleicht: Jo, war wirklich Sch***e. Dann geht ihr noch zusammen einen Trinken und weiter geht’s. Wenn er sagt:

Angeklagter, Du hast es versemmelt.

Dann sagst Du ihm einfach: Jo, habe ich mir auch überlegt. Dies und das und jenes habe ich daraus gelernt, das mache ich nicht noch mal. Und, lieber Richter, was hast Du gelernt?

Wenn du nun aber schon einen richtigen Fiesling von innerem Richter hast, der vielleicht sogar sagt:

Angeklagter, Du bist eine Flasche.

Dann sagts Du ihm, dass er Dir seine unqualifizierten Pauschalisierungen ersparen solle. Und wenn er nichts Konstruktives zu dieser Situation beitragen will, dann soll er sich wieder schlafen legen, Du hättest jetzt wirklich Wichtigeres zu tun, als Dich auch noch von Dir selbst anpöbeln zu lassen. Je nachdem, wie Euer Verhältnis insgesamt so ist, könnt Ihr dann ja trotzdem noch einen Trinken gehen.

Zusammengefasst: Dieser Richter ist eigentlich zahnlos. Er ist wichtig, er ist richtig, er ist kompetent. Er ist aber nicht allmächtig. Lege Dich mit ihm an, treffe mit ihm Arrangements, diskutiere mit ihm seine Entscheidung. Er soll aber bitteschön Dich nicht als Person schlecht machen, das tun Freunde nicht.

Was bleibt für mich?

Klar will ich meine Sachen gut machen. Ich weiß auch, dass das Bessere des Guten Feind ist. Aber wenn der Richter zukünftig mal unflätig werden sollte, dann haben wir ein Gespräch unter Freunden. Ich stelle schon mal eine Flasche Wein bereit.

Hinweise

Liebe(r) Leser(in),
ich bin kein Psychologe, ich will hier auch keine Ratschläge geben, die über das Maß hinausgehen, was sich auch Freunde sagen. Tut mir den Gefallen und spielt nicht mit psychologischen Themen herum, wenn Ihr ernsthafte Probleme habt. Holt euch professionelle Hilfe!

Für die anderen hier noch die Zusammenfassung der Stichworte, wo es sich zu Surfen lohnt. Ich habe absichtlich keine Links hinterlegt, um euch nicht vorzuprägen.

  1. Anforderungsmanagement => Messbarkeit von „Fertig“ (Definition of Done – DoD)
  2. Perfektionismus
  3. Der Innere Richter
  4. moralischer Kompass

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