Bleib authentisch!


Im Coaching gibt es ja den Begriff der „Standortbestimmung“. Mit ihm sind Übungen und Modelle gemeint, die das Verständnis des Coachees über den aktuellen Status in einem angenommenen Prozess seiner Entwicklung vergrößern sollen. Das schließt auch eine Verortung in einer Landkarte aus Werten ein, die sich allerdings erfahrungsgemäß im Leben auch ändert. Diese Standortbestimmung ist in meiner Erfahrung ein wesentlicher Teil des Coachings, denn sie umfasst quasi alle Bereiche des Lebens. Spannend wird es jedoch insbesondere, wenn wir uns auf eine Zeitreise begeben: Wie bleibe ich „ich selbst“, will ich das überhaupt und wer bin ich? Der moderne Aufruf zur Selbstdarstellung in den sozialen Medien „Bleib Authentisch“ hilft nicht viel, aber das schauen wir uns einfach mal an.

Ich muss ja einräumen, dass ich noch nicht 100er Coachings durchgeführt habe. Dennoch ist die Anzahl von „schulmäßig“ durchgeführten Standortbestimmungen einschließlich meiner mit mir selbst durchgeführten Standortbestimmung sehr gering. Woran liegt das? Kann sein, dass es an mir liegt, weil ich eben selbst auch nicht so gerne meine bisherigen Gedanken in ein vorgegebenes Raster presse. Meine bisherigen Coachees passten da insofern gut zu mir als Coach, weil sie eben auch zu keinem Modell gut passten. Was haben wir also gemacht?

Mein Selbstverständnis als Coach ist, dass die Modelle dem Coachee helfen müssen und keineswegs anders herum. Das Modell ist nur dann gut, wenn es die Gedanken des Coachees aufnimmt, eventuell etwas strukturiert aber auch nicht einengt. Ich habe also den Coachees Ideen vorgestellt, wie wir zusammen an einer Standortbestimmung arbeiten können. Dazu habe ich die Grundzüge der Modelle skizziert und wir haben darüber gesprochen. Das Großartige daran ist, dass bereits das Einbinden des Coachees in diesen Prozess super viel über dessen Standort offenbart .

Standortbestimmung

Wir arbeiten dann in dem Lieblingsmodell des Coachees – interessanter Weise war dies oft „Ikigai“. Es trägt zwar nicht explizit aber doch implizit eine zeitliche Komponente im Sinne einer Entwicklung der Persönlichkeit in sich. So entstehen sehr spannende und erkenntnisreiche Gespräche – einfach dadurch, dass der Coach fragt, ob denn die Bewertung einer genannten Tätigkeit im „Jetzt“ liegt oder sie angestrebt wird – also ob sich die Bewertung über die Zeit verändert. Ich empfehle Euch, mal nach Ikigai im Internet zu suchen, es gibt sehr viel zu lesen.

So gesehen ist die Arbeit mit dem Modell, die Fragen und die Gespräche darüber die eigentliche Reise zur Erkenntnis. Das Modell „Ikigai“ wie auch bei andern Coaching-Modellen ist dann nur das Vehikel, um das Selbst zu erkennen und vielleicht sogar besser zu verstehen.

Die Standortbestimmung ist aber ja kein Selbstzweck, sondern der erste Schritt auf einer Reise. Der Coachee erfährt etwas über das „jetzt ist es so“ und hat vielleicht schon in den Gesprächen Defizite oder Wünsche geäußert. Aber was ist dann nun nächste Schritt?

Ein Klärungsschritt extra

Bevor wir uns mit der einem Ziel beschäftigen, wünsche ich mir von dem Coachee, dass er das Gute an seinem Standort beschreibt. Diese Frage ist Teil des Klärungsschritts zwischen Standort und einem vielleicht noch unklaren Ziel. Es ist dabei hilfreich, diesen Klärungsschritt explizit zu machen.

  1. Was ist das Gute am Jetzt? Was ist nicht so gut und welchem Wesenszug widerspricht das?
  2. Mit wem möchtest Du tauschen, wenn Du nur das ganze Leben tauschen könntest?
  3. Was würdest Du dabei gewinnen, was würdest du verlieren?
  4. Wenn Du an dir arbeitest und dich entwickeln möchtest, was soll denn von Dir bleiben?

Der Coachee bekommt so vor einer vielleicht verklärten Sicht auf den aktuellen Standort noch einmal die Chance, sich selbst aus einer anderen Perspektive zu sehen. Es hilft auch, eine mögliche Entwicklungsrichtung zu erkennen.

Weitere Fragen der Klärung sind:

  1. Für wen möchtest Du Dich weiter entwicklen?
  2. Möchtest Du Dich hin zu einem Ziel entwickeln oder von Deinem Standort weg?
  3. Was könntest Du verlieren, wenn Du die Entwicklung beendet hast?
  4. Was möchtest Du nicht verlieren?
  5. Hast Du eine Vorstellung von Deiner Reise?

Sind SMARTe Ziele immer gut?

Wenn wir nun gemeinsam entwickeln, welche Bereiche seines Standorts der Coachee gerne ändern möchte, bin ich tatsächlich auch mal ziemlich unSMART. Ich weiß ja, dass es sehr verbreitet ist, sich diese Ziele Specific, Measurable, Achievable, Reasonable, Timed zu setzen. In meiner Welt ist das aber nicht immer sinnvoll.

Wenn schon SMART, dann ist es wichtig, dass das Ziel inhärent diese SMARTen Eigenschaften in sich trägt. Ein Gegenbeispiel: Wenn der Coachee sich das Ziel setzt, in 3 Monaten 10 Kilo abzunehmen, weil das Normgewicht ja gesünder sei, dann ist das zwar ein SMARTes Ziel, aber in meiner Welt eben trotzdem kein gutes SMARTes Ziel. Es ist deswegen nicht gut, weil es diese SMARTen Eigenschaften nicht inhärent in sich trägt: Schließlich ist es quasi beliebig, ob ich in 3 Monaten das Ziel erreiche oder in 4, 5 oder 7 Monaten.

Wenn der Coachee sich das Ziel setzt, zu einem bestimmten Tag ein bestimmtes Gewicht zu erreichen – weil dann ein Wettkampf stattfindet und er sich nur Chancen in einer bestimmten Gewichtsklasse ausmahlt –  dann wird es auch ein gutes Ziel.

Können wir uns nun selbst entwickeln, in dem wir uns gute SMARTe Ziele setzen? Ich glaube, dass das noch immer nicht reicht, denn viele Eigenschaften lassen sich nicht inhärent messen. Wenn ich mein Lampenfieber in den Griff bekommen möchte, dann kann ich mir zwar eine Skala für mein aktuelles Lampenfieber ausdenken, die aber leider nicht das Gefühl wiederspiegelt. So eine künstliche Skala ist im Coaching zwar verbreitet aber nicht immer auch sinnvoll. Alternativ zur Skala kann ich auch sagen, dass ich drei Auftritte in den nächsten 6 Monaten absolviere – das ist aber auch nicht wirklich gut, weil es ja auch zwei Auftritte in 8 Monaten sein können.

Wir können auch den Wettkampfgedanken von oben aufgreifen: Ich möchte an einem bestimmten Poetry-Slam teilnehmen und sollte dafür auf der Bühne auch trotz Lampenfieber noch ein Wort rausbringen können. Dann hätte ich wenigstens ein gutes SMARTes Ziel.

Wir brauchen auch unSMARTe Ziele!

Der Bedarf an unsSMARTen Zielen besteht oft bei Entwicklungen, die der Coachee ohne Zweck verfolgen möchte. Dann bringt er eine intrinsische Motivation, die eher an Visionen, Freude an kleinen Schritten, dahintreiben lassen, Chancen und Gelegenheiten ausgerichtet ist. Das ist unSMART, weil eben fast alle SMART-Eigenschaften fehlen, funktioniert aber fast besser. Dann wird jedes einzelne Blümchen im Balkonkasten gefeiert, auch wenn man keinen Pflanzplan hat, sondern nur Platz und Erde. Sie werden vielleicht nie Veganer, aber freuen sich über jedes Stück Fleisch, dass sie nicht essen – auf, dass es morgen noch eins weniger geworden ist.

Das Prinzip der unSMARTen guten Ziele bespreche ich auch mit den Coachees. Und es ist so, dass die Einen die enge Führung eines Planes brauchen, der zur Erreichung eines Meilensteines abgearbeitet werden kann, und die anderen sind eher die diejenigen, die aufmerksam durch die Welt laufen, Chancen sehen, sich auf die Vision neu einschwingen und morgen schon ein Stück besser sind als gestern.

So bin ich davon überzeugt, dass Ziele vielleicht SMART sein können, aber auch noch gut sein müssen, damit sie funktionieren. Und dass es auch Menschen gibt, die keinen Plan oder SMARTe Ziele brauchen, um jeden Tag ein Stück über sich hinauszuwachsen.

Bleib authentisch!

Wie können wir uns nun entwickeln und gleichzeitig so bleiben, wie wir sind? Aber wie können wir sein, wer wir sind, wenn doch die Situationen, in denen wir unser Leben leben, immer wieder neu sind?

Ich bin davon überzeugt, dass die Antwort auf diesen Widerspruch nur sein kann, dass die Änderung zu dem Sein dazugehört. So kann ich mich entwickeln, wenn ich es möchte oder muss und kann so bleiben, wenn ich diese EIgenschaft für gut genug befinde.

Ich bleibe auch authentisch, wenn die Facetten, die ich zeige, nur Teilansichten von mir in bestimmen Situationen sind, sie aber alle zu mir gehören. Wenn diese Ansichten Teile eines stimmigen Gesamtbildes darstellen, dann würde ich diese Person als authentisch ansehen. Wichtig ist auch, dass ich keinen Anlass habe, dass diese gezeigten Facetten nur zu einem Zweck gezeigt werden. Andersherum gesehen, wenn eine Person unter dem Deckmantel der Authentizität unhöflich reagiert, ist diese Unhöflichkeit eben auch eine Facette – die zeigt, dass diese Person nicht bereit ist, sich auf die jeweilige Situation angemessen einzustellen.

Natürlich kann ich nicht heute der extrovertierte Party-Knaller sein, morgen der introvertierte Party-Abstinenzler und übermorgen rufe ich die Polizei, weil in der Wohnung über mir jemand eine Flasche Wein geöffnet hat. So haben diese ganzen Facetten eine zeitliche Komponente und auch eine Passung zueinander, um eine Person als authentisch darzustellen. Und wir müssen auch beachten, dass wir uns nicht selbst als authentisch bewerten können – das wäre ja fast eine Tautologie: Natürlich sind wir selbst immer wir selbst – wer sonst? Wir sind also oder sind auch nicht authentisch in den Augen anderer. Der Appell „Bleib authentisch“ sagt also auch etwas über den Sprecher aus.

Die Reise beginnt

Haben wir die Standortbestimmung, die Klärung hinsichtlich Authentizität, ein SMARTes oder auch gerne unSMARTes Ziel, brechen wir beide, der Coachee und der Coach, in eine ungewisse Zukunft auf. Wir verlassen gesichertes Terrain, in dem tatsächliche oder zumindest gefühlte Wahrheiten herrschen und müssen nun eine Vorstellung entwickeln, wohin die Lebensreise gehen soll. Die alles beherrschende Frage lautet „Was soll ich tun?“ Dazu haben die einen oder anderen Philosophen schon nachgedacht, ich schiebe das mal als Cliffhanger zu einem meiner nächsten Artikel.

Was bleibt für mich?

Die SMART-heit von Zielen wird überbewertet, ihr Anwendung lässt sich aber nicht immer vermeiden. Ich schaue einfach besser hin, um nicht in die SMART-Fallen zu tappen, wenn ein Ziel kein gutes Ziel ist und öffne meine Augen für die unSMARTen Entwicklungen ohne Druck und Wettkampf.

Ob ich authentisch bin oder nicht, kann ich nicht sagen – das können andere vielleicht über mich sagen. So gesehen kann ich das auch nicht wirklich anstreben, das ergibt sich eher. Was ich allerdings unbedingt und unSMART anstrebe, ist angemessen in möglichst vielen verschiedenen Situation zu reagieren – und unhöflich will ich wirklich nicht sein.

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