Wir kennen Redensarten zur Dynamik unserer Umgebung: Die Zeit zerrinnt zwischen den Fingern, das Hamsterrad der täglichen Arbeit, wie gewonnen so zerronnen. Das hat Heraklit, ein griechischer Philosoph, bereits 500 v. Chr. erkannt, als er das Axiom „Alles fließt“ aufstellte. Ein paar weitere Erkenntnisse haben sich in den letzten 2500 Jahren aber dann noch noch ergeben.
Unter dem Suchbegriff „Alles fließt“ findet man im Netz viele Artikel, die auch das griechische „Panta rhei“ einschließen. Gemeint ist, dass alle Dinge dem Wandel der Zeit unterworfen sind. Heraklit verwendet als Metapher den Fluss, der niemals das gleiche Wasser führt, wenn man ein zweites Mal hinsteigt, sowie man selbst eben auch beim zweiten Bad nicht mehr der Gleiche ist.
Wir erleben das heute fast intensiver denn je:
- Die Digitalisierung sorgt für eine hohe Dynamik in den Märkten und den Informationsströmen
- Eine geringer werdender Einsatz für Verbindlichkeit in sozialen Bindungen führt zu loseren und damit volatilen Beziehungen
- Landschaften ändern sich durch menschliche Eingriffe schneller und deutlicher, als noch zu Heraklits Zeiten
Der kritische Leser, der es noch bis hierher geschafft hat, könnte anmerken, dass alles bisher ja wohl alles ein alter Hut sei. Ich habe ja schließlich selbst gesagt, dass es eben schon die alten Griechen erkannten, dass es so etwas wie eine zeitlichen Änderung der Dinge gäbe. Soweit richtig – zusätzlich ist sogar die Konsequenz daraus ein alter Hut: In diesem Fluss brauchen die Menschen Orientierung – die einen weniger, die anderen mehr. Aber woher kommt sie, wenn der Fluss doch immer schneller fließt? Und einer alleine vielleicht wenig Chancen auf Orientierung hat? Auch diese Diskussion ist alt. Für mich neu war eine Studie, die ich zu diesem Thema gelesen habe und hier vorstellen möchte.
Das Kernproblem
Nehmen wir an, zu einem bestimmten Zeitpunkt habe ich alles im Griff, ich kenne die Fließrichtung und in die Richtung wollte ich sowieso. Plötzlich kommen aber neue Informationen, Anforderungen, Störungen, was-auch-immer und nun gilt es aus folgenden Optionen zu wählen:
- Leugnen: Die Neuerung ist eigentlich gar nicht da
- Auch jetzt ist der bisherige Kurs genau richtig: Richtung aktiv beibehalten
- Abbiegen und irgendwas anders machen
- Anker werfen und erstmal nachdenken, dann einen der anderen Punkte wählen
- volle Kraft zurück weil alles bisherig sich als Mist herausgestellt hat
Wie auch immer: Es ergibt sich ein Spannungsfeld: Neue Situation versus bisheriger. Das Spannungsfeld ist inhärent da und erfordert einen Umgang.
Herausforderungen im Umgang mit dem Problem
Wir steigern nun dieses Kernproblem, indem wir annehmen, dass unser Fluss gar nicht so lieblich ist, sondern eigentlich reißend, mit Stromschnellen, Untiefen und Krokodilen. So mag sich das Leben mancher Individuen anfühlen, ich möchte unsere Aufmerksamkeit auf diejenien lenken, die eine Firma zu leiten haben. Die Ausrichtung eines Unternehmens in diesem Spannungsfeld erfordert Anpassungen an:
- Businessinhalte
- Arbeitsabläufe
- Strukturelle Aufteilung
- Inklusionen / Abgrenzungen
Die Mitarbeiter des Unternehmens reagieren individuell auf diesen Anpassungsdruck: Manche ändern sich schneller entlang des Spannungsbogens, andere langsamer oder gar nicht. Die entschiedenen Änderungen scheren aber oft viele Mitarbeiter über einen Kamm. Großartig: Wir haben soeben einen zweites Spannungsfeld erkannt: Ich bringe meine Mitarbeiterin eine Sortierreihenfolge gemäß ihrer Flexibilität: Die jungen, dynamischen Hüpfer bis hin zu den renitenten Meckerfritzen. Nicht jeder fühlt sich in diesen Schubladen wohl.
Kurze Zusammenfassung vor dem Einstieg in die Optionen
- Wenn sich die Umgebung ändert, ohne dass wir das beeinflussen können, müssen wir individuell und als Unternehmen auf die geänderten Rahmenbedingungen reagieren.
- Es gibt unterschiedliche Strategien zur Anpassung, wenige Dinge sind wirklich alternativlos
- Die Maßnahmen zur Anpassung eines Unternehmens müssen nicht zu den individuellen Anpassungsstrategien der Mitarbeiter passen.
Optionen: Wie gehe ich damit um?
Jeder Mitarbeiter arbeitet mit dem Anpassungsdruck in zwei Bereichen: Was muss ich an mir ändern? Und was ändert sich in meinem Umfeld?
Die meisten Mitarbeiter orientieren sich in ihren Einschätzungen über das Ausmaß der Änderungen und die Richtung an anderen: an Kollegen, an formellen oder informellen Führungskräften, eher selten aber an Untergebenen.
Wir schauen uns mögliche Rollen für Führungskräfte an (angelehnt an die Studie „LEAD Research Series: Die Haltung entscheidet. Neue Führungspraxis für die digitale Welt“). Diese Studie unter 31 Spitzenführungskräften aus der Wirtschaft zeigt erfolgversprechende Rollen, die Führungskräfte einnehmen können, um in den Spannungsfeldern navigieren zu können. Diese Rollen möchte ich kurz vorstellen, die Beschreibung ist weitgehend der Studie entnommen, jedoch von mir an der einen oder anderen Stelle ergänzt. Ich empfehle, die Studie im Wortlaut ergänzend dazu zu lesen.
Die grundsätzliche Idee hinter diesen Rollen ist, dass die Dynamik nicht mehr von einer Person umfasst werden kann. Im interessanten Interview „Macht radikal nach unten geben“ stellt Lars Ottmer, Head of Lufthansa School of Business diese These auf und geht auf die grundsätzlichen Bedingungen dieses Strukturwandels ein. Das Rollenmodell aus der LEAD-Studie könnte ein neues Selbstverständnis des Managements bilden.
Der Seismologe
Der Seismologe erkennt frühzeitig Spannungen und Erschütterungen. Er sieht sich eher als ein Frühwarnsystem als ein Seher. Folgende Grundlagen für gute Entscheidungen sind sein Werkzeug:
- „Situation Rooms“ zur Entwicklung von Handlungsstrategien nutzen
- Über digitale Plattformen auf verborgenes Wissen zugreifen
- Intuition / den inneren Kompass als zusätzliche „Datenquelle“ schulen
Der Landschaftsgärtner
Der Landschaftsgärtner kennt das ganze Ökosystem und weiß, welche Dinge zusammengedeihen und welche sich stören. Er gibt auch Pflanzen einen Raum, die sich erst entfalten müssen, die aber dann zum rechten Zeitpunkt erblühen. Er nutzt:
- Schnelles „Prototyping“: Failing is OK, but fail fast!
- Unkonventionelle auch externe Partnerschaften
- Crossfunktionale Teams um Knowledge-Silos zu vermeiden
Der Zen-Schüler
Der Zen-Schüler sieht sich in der Ausbildung – reflektiert also seine Haltung und seine Entscheidungen vor einem inneren Wertegerüst. Empathie, Achtsamkeit und Offenheit sind seine Stärken. Folgende Einrichtungen helfen ihm:
- Coaching und Mentoring-Programme
- Physische Räume für mentalen Ausgleich
- Persönlich Neigung zur Reflexion
Der Intendant
Der Intendant wählt die Stücke, die zur Aufführung kommen. Entlang eines roten Fadens spinnt er das Geschäftsfeld und die Entwicklung der Akteure. Er nutzt dabei:
- Ein „Strategy Board“ als Voraussetzung für Richtungsentscheidungen
- Interaktive Beteiligungsformen zur Erhöhung der Einigkeit über die Richtung
- Selten: Persönlichen Mut zur klaren Ansage in der Krise
Der Discjockey
Der Discjockey bringt mit Musik die Menschen auf die Tanzfläche. Mit seiner Musik setzt er einen Rahmen, der motiviert, anregt und gemeinsame Energie erzeugt. Zugleich hat er ein offenes Ohr für Anregungen und sensible Antennen für das richtige Stück im richtigen Moment. Er nutzt:
- Empathie als Führungskompetenz
- Möglichkeiten, Räume zu schaffen, in denen Menschen gerne arbeiten
- Seine Vorbildfunktion um Zugewandtheit und Leistungsorientierung als Führungsmittel im Unternehmen zu etablieren
Der Sportdirektor
Der Sportdirektor stellt den Kader zusammen und stellt Anforderungen an die offenen Positionen, die seine Mannschaft komplettieren. Dann schafft er Anreize, sodass die freien Spieler des Marktes gerne zu seinem Verein wechseln und sich mit ihren Stärken einbringen. Dazu erarbeitet er:
- Suchkriterien für Rekrutierung
- Rollen für Mitarbeitende mit verschiedensten Hintergründen
- Familien und altersgerechte Arbeitszeitmodelle
- Mit dem Trainer interne Modelle zur Entwicklung der eigenen Mannschaft
Der Trainer
Der Trainer leitet die Mannschaft taktisch und entwickelt eine generelle Spielstrategie. Für das Spiel ist die Mannschaft dann gut vorbereitet und der Trainer muss kaum eingreifen. Der Trainer übernimmt Verantwortung bei falscher Spielstrategie und bleibt im Schatten der Sonne, die über dem erfolgreichen Team scheint. Er ermöglicht dem Team:
- Über zeitgemäße Lernformate Kompetenzen zu entwickeln
- Gegenseitiges Vertrauen aufzubauen
- Übernahme von Verantwortung zu üben
Der Blogger
Der Blogger kommentiert die Geschehnisse, persönlich gefärbt, kritisch, aber öffnet ein Forum für Diskussionen. Er ist neugierig auf die Welt und will sie seinen Lesern vermitteln, die ihm und den anderen Lesern Feedback geben. Er nutzt:
- Geschichten, um die Veränderung in die Organisation zu kaskadieren
- Gemeinsame Lernprozesse und moderiert diese
- Seine Stelle als Journalist um Veränderungsanstöße zu geben
Klingt gut. Und nun?
Die Studie gibt keine Hinweise darauf, wie diese Rollen zum Leben erweckt werden können. Ich habe diese Studie im Kollegenkreis vorgestellt und hatte außer eigenen Ideen darauf entsprechend keine Antwort. Wir waren uns über folgende Einschätzungen (mehr oder weniger) einig:
- Diese Rollen können in allen Hierarchieebenen besetzt werden
- Eine Person kann mehrer Rollen übernehmen, manche Kombinationen scheinen geeigneter zu sein als andere
- Nicht alle Rollen müssen besetzt sein, aber eine alleine ist sicher zu wenig
- Führung über diese Rollen ist gänzlich anders als die übliche „Befehlspyramide“. Ist es noch eine Führung?
- Die genannten Rollen sind womöglich nicht vollständig.
Ich glaube, dass diese Rollen letztendlich eine Art Werkzeugkasten sind, um die Dynamik der Änderungen auf mehrere Schultern zu verteilen. Wir können so die Vielzahl der Aspekte des Flusses, der Stromschnellen, Untiefen und Krokodile erkennen, einbinden und verarbeiten. Ziel ist, ein Unternehmen zu erschaffen, das im Kern stabil und ruhig, an den äußeren Zonen jedoch flexibel ist . So verbinden wir Dynamik und Konstanz.
Ich forsche noch nach einer möglichen konkreten Umsetzung. Vielleicht mag ja der eine oder andere Leser mir etwas dazu schreiben.
Fazit
Die in der Studie interviewten Fachkräfte lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Die einen versuchen die neue Komplexität mit den bisherigen, geübten Methoden zu lösen. Die anderen sehen, dass der bisherige Methodenkoffer nicht ausreicht und versuchen mit einer positiven Haltung und Wertschätzung den Mitarbeitern gegenüber das Gesamtsystem im Blick zu haben, während sie die multidimensionalen Spannungsräume austarieren. Das erfordert auch ein Mitwirken des Teams und somit eine Änderung der Zusammenarbeit.
Die Autoren der Studie haben acht mögliche Rollen für moderne Führungskräfte aus ihren Interviews heraus destilliert. Sehr gut an diesem Rollensatz ist, dass er zum Gespräch über alternative Führungsmodelle einlädt. Wer sich auf diese Diskussion einlässt, beginnt bereits, sich das Potenzial seiner Mitarbeiter zu erschließen.
Nachtrag
Der Soziologe Hartmut Rosa hat sich in seinem Essay „Beschleunigung und Entfremdung“ Gedanken über das Wesen und die Gründe der gefühlten Verdichtung gemacht. Ich bin über den Artikel „So bekommen wir unser Zeitproblem in den Griff“ darauf aufmerksam geworden und habe mir das Buch bestellt – aber noch nicht gelesen. Ich bin gespannt, auch wenn die Rezension in der FAZ kritisch war.