Wenn die Welt um mich herum zu viel, zu laut oder zu schnell wird, suche ich die Leere, die Stille, die Langsamkeit. Wie kann dieser Bedarf entstehen? Bedeutet dieser Wunsch nicht, dass es ein Leben gibt, dass ich führe und eines, dass ich lieber führen würde, da ich es statt des Gelebten suche? Eines, in dem die Kräftebilanz stimmt? Wie immer ist es komplexer.
Ich befinde mich in Zingst in einem Cafe, in dem ich Tee und Kuchen genieße. Ich habe mich darauf gefreut und auch, die Gelegenheit zum Schreiben dieser Zeilen zu haben. Ich sehe durch das Fenster hindurch in den Garten, in dem ein voller Apfelbaum den Herbst ankündigt, es stehen noch letzte Sonnenblumen da, Hagebutten leuchten rot zwischen den gelben Blättern.
Das Cafe ist sehr gut besetzt. Ich vermute, dass die meisten Gäste Touristen sind, wie ich auch. Warum sind sie hier? Was suchen sie? Während ich meine Tasse Tee trinke und das Stück Kuchen esse, kommen und gehen die Gäste an den anderen Tischen. Ich denke über diese Zeilen nach, schreibe, korrigiere und lösche sie. Das Gerede und der Umgang der Menschen untereinander lenkt mich ab und beruhigt mich gleichzeitig. Was suche ich, was finde ich hier?
Nach Sokrates ist die Liebe immer das Verlangen nach etwas nicht Vorhandenem. Und somit offenbart sich in meinem Wunsch, hier die Leere, die Stille und die Langsamkeit zu finden, meine Sehnsucht nach dem, was in meinem Alltag fehlt. Diese Erkenntnis ist nicht neu, wir können viel über die Nebenerscheinungen der modernen Welt lesen. Neu ist für mich, dass ich einräumen muss, dass ich es nicht geschafft habe, die Balance zwischen Leer und Voll, Laut und Leise, Schnell und Langsam für mich geeignet einzustellen.
Das Prinzip, sich im Urlaub zu erholen und im Alltag die gesammelten Kräfte wieder zu verbrauchen, so erkenne ich, passt nicht mehr zu mir. Ich akzeptiere unterschiedliche Schwerpunkte in den Tätigkeiten, aber nicht mehr die aus der Waage gehende Kräftebilanz. Zunächst einmal ist es wichtig, genau dies festzustellen und für sich anzuerkennen. So ist es im Kleinen bei mir persönlich die Erkenntnis, die auch für das Große gilt: Ein „Weiter so“ kann es nicht geben, wenn dadurch die Kräfte erschöpfen.
Und so denke ich darüber nach, wie ich zum einen die Erschöpfung auffangen kann und zum anderen zu einer Ausgewogenheit finden kann, die mich vor dem nächsten Ausschlagen der Waage schützen kann.
Eines nach dem Anderen
Änderungen erfordern Kraft. Sie erfordern kurzfristig eine höhere Kraft als das „weiter so“. Sie überziehen die Kräftebilanz durch eine Investition in die Zukunft. Wir hoffen auf eine Verzinsung unserer Aktivitäten und dass wir nach unserer Änderung die gewünschte Ausgewogenheit erreichen können. Wir haben wie bei jeder Bank, bei der wir uns Geld leihen, aber auch eine Grenze im Umfang dieses Kräfteüberziehungskredits. In der Kräftebilanz ist es die Gesundheit, die eine kurze Überlastung duldet, eine längere nicht. Gut ist, wenn wir es schaffen, uns nach der Überlastung wieder zügig in die Kräfte-Balance einzuschwingen. Haben wir es vielleicht sogar geschafft, dass wir unsere Kräfte dauerhaft sammeln können?
Fühlen und Denken
Wir haben gelernt, dass wir die Welt mit Hilfe unseres Kopfes erobern können. Wir haben einen „Wenn-Dann“ Ansatz, der Modelle entwickelt und Aktionen definiert, um diese Modelle Realität werden zu lassen. Dieses Vorgehen ist durch unsere Kultur quasi in unsere DNA eingraviert, dass wir uns schwertun, parallele Ansätze zuzulassen. Diese Ratio blendet das Irrationale per Definitionem aus und damit einen wesentlichen Aspekt des Mensch-Seins: Die Westliche Aufklärung hat einen Hang zur Ratio – wir kennen das Prinzip des „Cogito – ergo sum“, über das das Denken an den Anfang gestellt wird. In der relativ jungen Geschichte der Sensibilität wird durch die Verletzlichkeit des Menschen nun auch seine Gefühle als relevant akzeptiert. Erst das Anerkennen dieser Verletzlichkeit hat letztendlich zu den allgemeinen Menschenrechten geführt.
Das bedeutet insbesondere aber auch, dass wir uns auch über die Gefühlswelt neue Aspekte der Welt erschließen können, die der Ratio verborgen blieben.
Die Intensität des Wenigen
Es heißt, dass kein Tag verloren ist, den man am Meer verbringt und die Wellen beobachtet. Das ist richtig.
Was bleibt für mich?
Die Beobachtung der Wellen schließt ein, barfuß am Strand entlang zu gehen, den Sand und die Muscheln unter den Füßen zu spüren, den Tang zu riechen, die Möwen zu hören und das Salz zu schmecken. Das ist viel für die Sinne und wenig für den Kopf. Der wird vom Seewind einfach freigeblasen und kann irgendwann später wunderbar mit einem Tee neu gestartet werden.
Es kommt immer wieder auf die Frage zurück: Was ist wichtig im Leben? Ein Tag am Meer ist wichtig. Barfußgehen am Strand ist wichtig. Wellen beobachten ist wichtig. Entgegen aller Vernunft einen Tag am Strand sitzen und nichts tun ist wichtig.